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E D I T I O N   M U S I K   S Ü D O S T

Der Temeswarer Hausschlüssel am Wörthsee

Marianne Meissner (geb. Wegenstein) und die Orgelfabrik ihres Vaters Richard Wegenstein

Von Dr. Franz Metz

„Bukarest, 13. April 1972

Der Staatsrat der Sozialistischen Republik Rumänien dekretiert:

Zwecks Entwicklung des Schweißzentrums in Temeswar, wird der Hausplatz mit einer Fläche von 474 m² samt den dazu gehörenden Immobilien mit der Fläche von 352,80 m², mit der Adresse Boulevard Mihai Viteazu 30 im Munizipium Temeswar enteignet und wird in den Besitz des Staates übertragen. (…)

Vorsitzender des Staatsrates,

Nicolae Ceausescu“

 

Mihai-Viteazu-Boulevard 30 – das war die Adresse der größten Orgelbaufirma Südosteuropas in Temeswar, die um 1883 von dem aus Österreich stammenden Carl Leopold Wegenstein gegründet wurde. In nur wenigen Tagen wurde 1972 das historische Gebäude abgerissen, heute steht auf diesem Hausplatz des Schweißzentrum – ein rundes hohes Gebäude, das in der Zeit des damaligen „glorreichen Sozialismus“ wohl futuristisch ausgesehen haben muss. Nur unweit davon befindet sich die katholische Pfarrkirche der Elisabethstadt mit der vorletzten Orgel der Wegensteinfirma.

Von dem angerissenen Gebäude der Wegensteinfirma ist nichts mehr übrig geblieben, außer dem Hausschlüssel. Dieser hängt heute eingerahmt und in Ehren gehalten in der Wohnung von Frau Marianne Meissner, einer Tochter Richard Wegensteins, der letzte Inhaber der Temeswarer Orgelbaufirma. Es muss schrecklich gewesen sein für jene Kinder, die in diesem nun enteigneten Haus das Licht der Welt erblickt haben und dieses von heute auf morgen – auf Befehl Ceausescus – für immer verlieren.

Marianne Meissner ist ein sehr wacher Geist, ein quicklebendiger Mensch, der im Leben viel erlebt hat. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ilse hat sie schöne Jahre in Temeswar erlebt und vieles ist ihr noch bis heute in Erinnerung geblieben. Sie war Schülerin der Armen Schulschwestern in Temeswar, in deren Klosterkirche in der Josefstadt ihr Vater Richard Wegenstein die Orgel betreut hat. Dadurch war ihr Studium fast gratis.

Auch an die Wallfahrtskirche Maria Radna hat Marianne Meissner viele Erinnerungen. Sie war mit ihrem Vater als kleines Mädchen öfter dabei, als er die historische Orgel ihres Großvaters Carl Leopold Wegenstein aus dem Jahre 1905 stimmen musste. Einmal verlief sie sich in der Kirche und wurde nicht bemerkt als man diese gesperrt hat. Erst nach langem und lautem Rufen konnte man sie befreien. Auch an die kleinen Votivbildchen erinnert sie sich, die sich durch die Handwärme wölbten.

Die Familie Wegenstein stammte aus Österreich. Der eine Bruder Carl Leopold Wegensteins hatte in der Wiener Nussdorfer Straße eine eigene Wirtschaft, wo heute noch ein großer Stein von den damaligen Wettkämpfen eingemauert ist. Der andere Bruder hatte in Berlin eine eigene Kapelle und gab regelmäßig Konzerte im Berliner Zoo.

An einer Wand ihrer Wohnung sieht man auch das Modell der Orgel der Temeswar-Elisabethstädter Kirche. Damit wollte man Maßstäbe setzen im Banater Orgelbau: es war die erste elektrische Orgel dieser Gegend. Doch der Zweite Weltkrieg machte ihnen ein Strich durch die Rechnung: mangels den nötigen Bestandteilen die aus Deutschland importiert werden mussten, konnte nach Kriegsbeginn die Arbeit nicht mehr beendet werden. Auch heute noch fehlen dieser Orgel die Prospektpfeifen.

Besonders schätzt sie die Millenniumsmedaille aus dem Jahre 1896, die ihr Großvater Carl Leopold bei der Millenniumsausstellung in Budapest erhalten hat. Damals hat man eigens dafür eine große Orgel erbaut, die während des Besuchs der Ausstellung durch Kaiser und König Franz Josef I. von einem Organisten gespielt wurde. Die Orgel wurde danach von der Stadt Temeswar abgekauft und in der innenstädtischen Kirche aufgebaut. Deshalb sieht man auch heute noch auf der Stirnkartusche das Wappen der Stadt. Damit die Leute dieses Instrument bewundern können, wurde sie unten in der Kirche aufgestellt. Erst später fand sie auf der viel zu kleinen Empore der Katharinenkirche ihren endgültigen Platz.

Gerne erinnert sich Marianne Meissner auch an den Orgelbauer Hans Dentler, der in Temeswar bei Wegenstein diesen Beruf erlernt hat. Nach dem Krieg wirkte er als Orgelbauer in Siegen. Auch hat er der Familie Wegenstein helfen wollen, einen Koffer voller Firmenakten außer Landes zu schaffen, doch diese Dokumente wurden an der Grenze alle beschlagnahmt. Heute würden diese uns bei den Recherchen zur Orgelbaugeschichte von größtem Nutzen sein.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde es immer schwieriger neue Orgeln zu bauen. Man brauchte dafür Zinn und dieses Material wurde für Kriegszwecke verwendet. Damit man keine Schwierigkeiten bekam, musste sie kurzerhand etwa 10 schwere Zinnbarren aus der Orgelbauwerkstatt in den Brunnen versenken, wo sie vermutlich auch heute noch liegen.

Die Wegenstein-Orgeln befinden sich heute nicht nur in Rumänien und Ungarn, sondern auch in der Slowakei, in Serbien und in der Ukraine. Als etwa 1939 ihr Vater Richard Wegenstein eine Orgel für die katholische Kirche in Odessa erbaut hat, hatte die Gemeinde kein Geld um das Instrument zu bezahlen. So erhielt der Orgelbauer vier Pelze von Silberfüchsen. Auch heute noch ist diese Orgel in funktion.

Marianne Meissners Mutter Helene war eine Siebenbürger Sachsin (geb. Höchsmann) und stammte aus Bistritz. Deren Vater war Pastor in Jaad. Deshalb bewahrt sie in Ehrfurcht eine kleine Puppe, die in sächsischer Tracht gekleidet ist und noch von ihrer Mutter stammt. Sie hat auch schöne Ferientage in Siebenbürgen verbracht, dort erlebt wie ihr Vater Orgel repariert hat und oft selbst Hand angelegt. Das Lebensende ihres Vaters Richard Wegenstein konnte sie nicht miterleben, da sie bereits in Deutschland war. Im Jahre 1959 konnte dieser noch eine Reise auf Einladung des Orgelbauers Molzer nach Wien machen und besuchte so auch München und Ottobrunn, wo seine Tochter lebte. Im Jahre 1970 verstarb er und fand auf dem Elisabethstädter Friedhof seine letzte Ruhe. Damit erlosch die Orgelbauerdynastie Wegenstein in Temeswar.

 

Das Gebäude der Wegenstein-Firma 1971

Das Institut für Schweisstechnik 1977

Richard Wegenstein (1933)

Marianne Meissner (geb. Wegenstein) mit ihrem Vater Richard Wegenstein

Ein Harmonium der Firma Wegenstein

Ein Entwurf Wegensteins für die neue Orgel der kath. Kirche der Elisabethstadt in Temeswar

So sollte die neue Wegenstein-Orgel in der kath. Kirche der Elisabethstadt aussehen

Eine Wegenstein-Orgel in der Slowakei

Der Spieltisch der Temeswarer Millenniumsorgel 1896

Wertvolle Holzschnitzereien am Spieltisch der Temeswarer Millenniumsorgel: “1896 Millennium”

Die Rückseite der Millenniumsmedaille 1896

 

Copyright © Dr. Franz Metz, München 2013

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