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E D I T I O N   M U S I K   S Ü D O S T

HUNGERZUG

Eine Reise durch den vergessenen Teil Europas, in das westliche Banat

von Dr. Franz Metz

 

Wenige Minuten nach Fünf. Der internationale Schnellzug Bukarest-Belgrad fährt an diesem Morgen pünktlich im Temeswarer Bahnhof ein. Nach der kurzen aber um so spannenderen Taxifahrt durch die noch schlafende Stadt - es war ein schrottreifes Vehikel, der Fahrpreis wurde nicht nach der Uhr, sondern nach dem Anzug des Kunden bestimmt - freue ich mich schon auf den angenehmen Sitzplatz im Wagen der ersten Klasse.

Mit einigen rumänischen Zeitungen versorgt besteige ich die steilen Stufen meines noch aus den besseren Ceausescu-Jahren stammenden Waggons, aus dem mir der gleiche Toilettengeruch entgegenströmt, wie zur Zeit meiner täglichen Zugfahrten zwischen Lugosch und Temeswar. Bereits nach den ersten Schritten werde ich unsicher, ob ich auch wirklich im Wagen 1. Klasse aufgestiegen bin: schmutzige Fenster mit zerrissenen Vorhängen, heraushängende Aschenbecher, klemmende Schiebetüren, aufgeschlitzte Bänke und nur wenige Abteile mit funktionierender Beleuchtung. Die meisten Neonröhren fehlten. Aber zum Glück drang etwas Licht vom Bahnsteig ein. Ich stolpere über Kartons, Säcke und riesige, sperrige Taschen zu meinem Sitzplatz im bereits überfüllten Abteil. In meiner Unsicherheit, ob dies wirklich der Schnellzug nach Belgrad sei, spreche ich eine Mitreisende an, die mich von oben bis unten anstarrt. "Sie sind hier schon richtig, mein Herr" - war die knappe Antwort. Mehr wollte ich ja auch nicht wissen, waren doch alle anderen Fahrgäste emsig dabei, ihr Reisegepäck - oder was es schon sein mag - unterzubringen.

Etwas stimmt da nicht, dachte ich mir. Ich komme mir vor wie in einer Markthalle: die Leute verteilen unter sich Kleider, Zigarettenstangen, ganze Kosmetikpackungen, paarweise gebündelte Schuhe, verpacktes Essbesteck, Spielzeug, elektrische Geräte, Werkzeugetuis und Packungen mit Unterwäsche. Bereits nach wenigen Minuten Zugfahrt durch die ehemalige Kornkammer Europas, wie man das Banat bis zur Nationalisierung des privaten Eigentums 1948 genannt hat, kehrte langsam Ruhe in die hin und her laufenden, mit nervösen Gesten miteinander verhandelnden Mitfahrer ein.

Es waren im Grunde genommen lauter nette, redselige jüngere Menschen - Grenzgänger - die in aller Hast und mit sicheren geübten Bewegungen ihre legale und illegale Ware bis zum Erscheinen der Zöllner verstauen mussten. Man verteilt die Güter hilfsbereit untereinander auf, so dass jeder von jedem "Exportartikel" kleinere Mengen besitzt. Man will ja auch nicht die Zollbeamten provozieren. Deswegen zog sich die eine Frau gleich mehrere Sportjacken, die zum Verkauf bestimmt waren, übereinander an. Zwei bekommt noch ihr Freund Ionutz, eine ihre Kollegin nebenan. Die restlichen Jacken aus dem meterhohen Stapel werden an den noch vorhandenen Kleiderhaken des Abteils verteilt.

Ich war der einzige Fahrgast, der nicht mit dem Verstauen von Ware beschäftigt war. Deshalb wurde ich auch heimlich und misstrauisch beobachtet. Es war peinlich. Aber was solls, die Leute waren untereinander sehr hilfsbereit und nett, kannten sich anscheinend seit längerer Zeit und machten auf mich keinen schlechten Eindruck. Sie schienen von dem Transport, der Verpackung und der Verstauung der mitgebrachten Ware erschöpft zu sein. Es waren jedenfalls keine schlechten Menschen - so viel konnte ich zu meiner Beruhigung feststellen.

Meine Banknachbarin spricht mich plötzlich an. Nachdem sie von mir erfahren hat, dass ich nur Tourist bin, einen deutschen Pass besitze und zum ersten Mal nach Belgrad fahre, war sie sichtlich beruhigt. Auch die anderen schienen erleichtert zu sein: also ist der Fremdling in ihrem Abteil kein rumänischer Beamter oder ein Spitzel, der ihnen am Zoll Schwierigkeiten bereiten könnte.

„Wir leben von dieser Arbeit“, sagt die etwas ältere Frau mit den vielen Jacken zu mir. „Jeden zweiten Tag fahren wir nach Pantschowa, wo wir unsere Ware auf dem großen Markt verkaufen. Hierher kommen Ungarn, Serben, Kroaten, Rumänen und das Geschäft geht gut. Ich bin Ingenieurin, bin seit vielen Jahren arbeitslos. Unsere Kinder müssen wir ja auch irgendwie versorgen. Sie wissen ja, wie schlecht es uns geht... Wenn wir Arbeit hätten, würden wir nicht dieser unwürdigen Tätigkeit nachgehen." Ihr Mann hört eine Weile zu, dann setzt er fort: "... und würden auch nicht mit diesem Hungerzug - Trenul foamei - reisen müssen. Dieser hilft uns zum Überleben. Früher kamen die Serben und haben uns mit dem Nötigsten versorgt. Jetzt sind wir diejenigen, die ihre Ware den Serben anbieten. So ist das Leben..."

Ich komme auch mit den anderen Nachbarn ins Gespräch. Ana, eine etwa 25-jährige Frau, ist seit einigen Tagen unterwegs. Sie kommt aus der Moldau. Ihre Ware beschafft sie von Freunden, die sie aus der Ukraine bringen. Ursprünglich kommen die Sachen aber aus Polen. Sie verdient damit - angenommen, dass alles klappt - etwa 300 DM im Monat. Natürlich muss sie auch damit rechnen, dass die Zöllner mal etwas beschlagnahmen, dazu kommen einige kleinere Geschenke an die Grenzler. Sie will diesen Job noch kurze Zeit ausüben, dann will sie aussteigen und sich eine ordentliche Arbeit suchen.

Im Abteil unseres Hungerzuges ist langsam Stille und eine gespannte Ruhe eingekehrt. Meine Nachbarn sitzen fast regungslos, sämtliche Sachen wurden unter dem Sitz, auf dem Gepäckgitter, in Innentaschen, Hosentaschen, Handtaschen, Tüten und Säcken verstaut. Man wartet nun gespannt auf etwas, das bald eintreten muss. Wir nähern uns der serbischen Grenze - jener Grenze, die bis 1989 zu den am meisten bewachten Trennstreifen östlich des Eisernen Vorhangs zählte. Da ich kein größeres Gepäck besaß, schob mir eine Banknachbarin zwei Stangen Zigaretten, die sie nirgends mehr unterbringen konnte, unter den linken Arm: "Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist harmlos, so viel dürfen Sie über die Grenze mitnehmen, mein Herr."

Es beginnt die Kontrolle auf der rumänischen Seite der Grenze. Die Stunde dauerte eine kleine Ewigkeit. Zuerst kommt der Schaffner. Ich war vermutlich der einzige Fahrgast mit einer Fahrkarte. Ohne zu zögern, nahm er das Bakschisch der Fahrgäste entgegen und steckte es ein. Es folgt die Passkontrolle, danach der Zoll. Man kannte sich schon und die jungen Zöllner waren den meisten Händlern gut bekannt. Sie tasteten das Gepäck ein wenig ab, fragten nach dem Inhalt, schärzten zwischendurch mit den einen oder anderen und gingen weiter. Was sollten sie auch sagen, man sieht sich ja regelmäßig in diesem Zug, weiß auch wann und wer mit welcher Ware unterwegs ist und auch die Händler wissen schon genau, wann welcher Zöllner seinen Dienst ausüben muss. Die Erleichterung nach dieser Kontrolle sah man den Fahrgästen ins Gesicht geschrieben. Sie haben es wieder geschafft!

Und ich? Ich saß mit den beiden Stangen Zigaretten unter dem Arm und wartete, dass ich meinen Pass zur Kontrolle vorzeigen kann. Ist ja alles in Ordnung... oder? Mein Pass wird mir aber weggenommen um meine Personalien zu überprüfen. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis der Beamte wieder zurückkam. Mein Gott, dachte ich mir, was ist jetzt los? Spannend konzentrierten sich alle Blicke auf mich. Der Beamte fordert mich auf, auszusteigen, da meine Papiere nicht in Ordnung sind. Ich sei mit dem Wagen nach Rumänien eingereist und reise nun mit dem Zug weiter. Warum? Ich erklärte, dass ich mich nur einige Tage in Jugoslawien aufhalten, und danach wieder nach Temeswar zurückkommen würde. Die Entschuldigung schien aber nichts zu nützen, da ich keine polizeiliche Bestätigung über den Verbleib meines Wagens vorweisen konnte. Der junge Beamte bat mich ein wenig zu warten, bis er mit seinem Vorgesetzten gesprochen hat. Es verging wieder etwa eine viertel Stunde, bis man mir den Pass zurückgebracht und unter das Visum "Ohne Auto" eingetragen hat. Damit durfte ich mit meinem Hungerzug die Reise in den anderen Teil des Banats fortsetzen.

Die Grenzstadt auf serbischer Seite heißt Werschetz. Eine Stadt, in der man auf Schritt und Tritt Altösterreich begegnen kann, - dies auch nach mehr als achtzig Jahren seit dem Zusammenbruch der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, zu der auch diese Grenzstadt gehört hat. Selbst der heruntergekommene Bahnhof stammt aus Kaiser Franz-Josephs Zeiten. Die Kastlfenster, Jugendstilbauten, barocken Kirchen, die Kula auf dem Berg und die über der Stadt wachende Kreuzkapelle - all dies sind Einzelheiten, die ich aus Büchern donauschwäbischer Autoren bereits kannte. Dies war einstens auch mal ihre Heimat. Vertreibung, Erschießungen, Flucht und nach 50 Jahren wieder Krieg. Diesmal traf es die Fernsehantenne auf dem Berg, die von einem amerikanischen Bomber 1999 getroffen wurde. Umgefallen ist sie aber erst nach einigen Monaten. Werschetz - irgendwann muss ich diesen Ort näher kennenlernen.

Unser Hungerzug, der heute zwei der ärmsten Länder Europas miteinander verbindet, steht hier wieder eine gute Stunde. Zeit genug, die verlorenen letzten zehn Jahre in den Gesichtern der Menschen beobachten zu können. Die Zeit blieb hier irgendwann stehen, vielleicht 1989. Zwei weißgekleidete Sanitäter, der eine mit einem größeren Behälter am Rücken, der andere mit einer Handspritze ausgerüstet, beginnen den Fußboden des Zuges und die Hände der Reisenden mit einer wässrigen Flüssigkeit zu besprühen. Mir fällt plötzlich ein, dass der rumänische Rundfunk vor einigen Tagen über eine Ebola-ähnliche Seuche im Kosovo berichtet hat. Alle Reisenden, die aus Jugoslawien einreisen, werden an der Grenze angeblich strengstens von einem Ärzteteam untersucht. Also werde ich auf der Rückreise auf der rumänischen Seite wieder besprüht werden?

Nach dieser Prozedur folgte wieder Pass- und Zollkontrolle, diesmal auf serbischer Seite. Nach einer Stunde fuhr der Zug Richtung Belgrad weiter. Neben mir, vor einem Fenster des Korridors, steht plötzlich ein älterer Herr. Wir beginnen zu plaudern und mussten nach wenigen englischen Worten feststellen, dass wir uns auch in rumänischer Sprache unterhalten könnten. Er kommt gerade aus dem südbanater Kurort Herkulesbad, wo er regelmäßig seine Bäder nimmt und fährt nun nach Hause. Sein rumänisches Dorf befindet sich im serbischen Teil des Banats. Herr Popescu hat aber einen kanadischen Pass, da er seit vielen Jahren dort wohnt. Er erzählt mir über die vielen rumänischen Siedlungen im Timoc-Tal, über die bis heute lebendigen Sitten und Bräuche seiner rumänischen Landsleute im serbischen Banat. Auch über die Grenzziehungen nach dem ersten Weltkrieg wurde gesprochen, als man im französischen Trianon eine der absurdesten Friedensverträge unterzeichnet hat: Mitten durch serbische, rumänische oder deutsche Siedlungen wurde eine erdichtete Grenze gezogen. Damit wurde 1919 einer historisch gewachsenen europäischen Region ein großer Schaden zugefügt. Sowohl für die Rumänen, als auch für die Serben und die damals hier noch lebenden Deutschen wirkte diese neue Grenze bereits kurze Zeit danach wie ein Albtraum. Der rumänische Serbe aus Kanada erzählte mir mit immer größerer Begeisterung über seine Heimat, die er, so Gott will, weiterhin jährlich besuchen möchte.

Ich verfolge die Landschaft, die eigentlich die gleiche ist wie im rumänischen Teil des Banats. Die barocken Türme der orthodoxen und katholischen Kirchen sind in diesem südlichen Teil dieser fruchtbaren Tiefebene von weitem sichtbar. Auch der Sozialismus lässt sich in den vielen ruinierten und rostigen Überresten staatlicher Unternehmen blicken, die die ländliche Idylle der wogenden Weizenfelder und Pappelalleen stören. Eigentlich kenne ich diesen Winkel Europas recht gut, da ich doch viele Freunde habe, für die dieses Land bis zu jenem bestimmten Tag der Weinlese 1944, der Himmel auf Erden war. Durch ihre Vertreibung und Flucht kamen sie nach Österreich und Deutschland, wo man sie heute als Donauschwaben bezeichnet.

Von einer ganz anderen Seite musste ich dieses Land 1999 kennenlernen, als uns der Kosovokrieg durch die Medien ins Wohnzimmer übertragen wurde. Mein Freund György Maketic wohnte damals unweit der Donaubrücke von Peterwardein, die bis heute den Schiffsverkehr auf der Donau seit ihrer Bombardierung sperrt. Die Bombardierungen der Städte Werschetz und Pantschowa soll man bis nach Temeswar gehört haben, sagte Herr Popescu. Seit damals soll auch etwas mit der Ernte nicht stimmen: die Kirschbäume blühen nicht mehr wie vorher, die Tomatenpflanzen sind unterentwickelt und auch mit den Kartoffeln soll etwas nicht in Ordnung sein. Man spricht heute noch täglich, sowohl auf der rumänischen als auch auf der serbischen Seite dieser Grenze, von eventuellen Folgeschäden der Bombardierungen. Also stimmts doch, dachte ich mir, was mir eine Notre-Dame-Schwester in Temeswar erzählt hat, dass nämlich eine ihrer Mitschwestern an den Folgen einer dadurch verursachten Gehirnerkrankung binnen einiger Wochen gestorben sei.

Unser Gespräch musste durch die Ankunft in Pantschowa abgebrochen werden. Schon in der Zwischenzeit bemerkte ich das gleiche emsige Treiben im Zug, wie nach der Abfahrt von Temeswar. Nun sammelte jeder Händler die untereinander verteilten Güter wieder ein: Jeder Fahrgast hatte nun eine riesige Menge an Kleidern, Schuhen, Bohrern, Kosmetika oder Unterwäsche. Auch ich wurde nun meine Schmuggelware - die beiden Stangen Zigaretten - wieder los und meine Nachbarin bedankte sich für die Hilfe. Kurz vor Pantschowa bat mich ein junger Mann aufzustehen. Ich stand auf, und er zog die Sitzbank nach vorne. Mein Gott! Wenn man dies an der Grenze entdeckt hätte: Unter meinem Sitz befand sich ein großer Stapel mit Zigarettenstangen. Für mich wars ein Schock, für den jungen Mann nur ein kleiner Trick. Aber, was solls... Die Zollkontrolle war ja schon längst vorbei. Glück gehabt!

Der Zug leert sich langsam. Die Händler tragen, ziehen, rollen ihre riesigen Säcke und Taschen herunter. Nicht weit vom Bahnhof wird das Ziel meiner Freunde sichtbar: Ein riesiger Umschlagplatz mit aneinandergereihten kleinen Buden, errichtet aus Plastiksäcken und Latten. Dazwischen streunende Hunde. Die zerfetzten Teile der Abdeckungen flatterten im Wind herum. Den Aussagen der Händler nach, kommen sie selbst im kältesten Winter hier her um ihre Ware verkaufen zu können. Ohne einen mitgebrachten Schlibowitz, dem Banater Schnaps, können sie die Kälte im Hungerzug und an den Verkaufsständen dann aber nicht ertragen.

Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass ich nach einigen Tagen mit genau dem selben Zug und auch einigen bekannten Gesichtern die Rückreise nach Temeswar antreten werde. Nach den vier Tagen, die ich in Belgrad und in der der Wojwodina verbrachte, war es nun so weit. Auch diesmal werden für die etwa 150 km sechs Stunden benötigt. Unser Hungerzug transportiert diesmal aber nicht Händler sondern meist einzelne jüngere Fahrgäste, die den Mut haben, sich diesem eigenartigen Zug anzuvertrauen.

Und es sind Leute, die ich bewundere. Sie sind aus ihrem grauen Alltag nicht geflüchtet, sondern stellen sich den oft erdrückenden Anforderungen. Die Armut hat viele Gesichter. Auch der Hungerzug ist ein Teil dieses aus Scherben bestückten bunten Mosaiks, namens Südosteuropa. Es sind dies aber kostbare Scherben: Überreste einer uralten Zivilisation, die schon immer von fremden Mächten bedroht wurde, vom Osten wie vom Westen. Die heutige Armut dieser Region ist eben auch diesen immer wieder störenden und letztendlich misslungenen Einflüssen zuzuschreiben.

Aus meinem Hungerzug könnte schon längst ein Intercity-Express geworden sein, der die beiden Metropolen einer Euroregion, Belgrad und Temeswar, miteinander verbinden könnte. Gibt es doch seit einiger Zeit in der Marosch-Theiss-Donau-Region Ansätze, die Grenzziehungen einer längst überholten Welt überflüssig zu machen. Zur Zeit sind es aber die Menschen, die vom jetzigen Zustand dieser Region keinen Gewinn erzielen: das ungeteilte Banat bleibt weiterhin ein Traum und der Hungerzug rollt weiter.

Während der Rückfahrt peitschte der Regen gegen die teilweise zerbrochenen Fenster. Von der Decke fielen Wassertropfen auf die mit groben Stichen wieder zugenähte Sitzbank. Auf dem Korridor steht das Wasser. Anscheinend wird all dies von niemandem bemerkt. Auch dies gehört vermutlich zum Alltag.

Zwei Studentinnen im Abteil nebenan unterhalten sich über diesen Zug. Die eine versucht erfolglos das Fenster zu öffnen: "What stupid train! It´s terrible!" - sagt sie mit lauter Stimme ihrer Freundin. Sie kommt aus Montenegro, die andere aus dem Banater Werschetz, beide studieren sie an der Temeswarer Medizinhochschule, die angeblich die beste in der ganzen Region sein soll. Nun fahren sie nach Rumänien zum Einkaufen. Aus dem anderen Abteil dröhnt schrille Unterhaltungsmusik aus einem übergroßen Recorder. Vier etwa 18-jährige Mädchen singen und tanzen zwischen und auf den Bänken. Ihr Gepäck besteht nur jeweils aus einer Handtasche und einer Plastiktüte. Ihre modischen knapp bemessenen Kleider könnten aus einem noblen Kaufhaus der Wiener Kärntnerstrasse stammen. Zwei von ihnen werden später von der Grenzpolizei abgeführt: keine gültigen Papiere. Die eine kam aus Moldawien, das andere Mädchen aus der Ukraine. Ohne viele Umstände zu machen, folgten sie den Anweisungen der Grenzpolizei, - fast wie gewohnt.

Zwei junge Männer rauchen im Korridor ihre Zigarette und erzählen sich in rumänischer Sprache ihre erlebten Abenteuer der letzten Tage. "Nein, um Gottes Willen, es zahlt sich nicht aus zu stehlen, damit kommst Du nicht weit," - sagt der eine. "Irgendwie, verflixt nochmal, müsste ich nach Deutschland gelangen. Dort könnte ich mir einen Job suchen und überleben. Hier ist´s nicht mehr auszuhalten." Es folgte eine genaue topographische Beschreibung eines Grenzabschnittverlaufs zu Österreich und Deutschland. Ein Freund habe ihm versichert, dass man hier irgendwann in der Nacht rüber kann. Auch der Zweite packte mit seinen spannenden Berichten aus. In Kroatien sei er ohne gültige Papiere festgenommen worden und verbrachte eine ganze Nacht hinter Gittern. Seit einigen Tagen hat er, außer Marillen, nichts mehr gegessen. Jetzt konnte er sich gerade noch die Rückfahrt leisten. Was er weiterhin machen wird, weiß er nicht: "Was Gott will, abwarten und versuchen über Österreich nach Deutschland zu gelangen..." Wenn man mal im Landesinneren ist, fragt kein Schwein mehr nach Deinem Pass, versicherte er. Vor einigen Jahren sei er von Hamburg bis Mailand im Zug gereist, ohne dass jemand ihn nach seinem Ausweis gefragt hätte. Fazit: Nichts, wie weg! Auch das Gepäck der beiden Jugendlichen war auf das Lebensnotwendigste reduziert: eine grüne durchsichtige Plastiktüte mit einem Stück Brot und einer Wasserflasche. Für all dies, was die beiden jungen Männer hinter sich hatten, sahen sie noch recht ordentlich aus. Es waren keine Verbrecher, nur zwei arbeitslose Jugendliche auf der Suche nach ihrem Glück und, - vielleicht - nach einer menschlicheren Welt.

Der Zug näherte sich in der von unzähligen Blitzen erhellten Banater Heide meinem Ziel: Temeswar. In den Abteilen ist eine unerträgliche Hitze, schlechte Luft und selbst das Sommergewitter kann die von der Sonne tagsüber erwärmten Waggons nicht abkühlen. Dazu gesellt sich noch das zierliche aber nervende Singen der Mücken, die vom flackernden Neonlicht angezogen wurden.

Es ist bereist eine Stunde vor Mitternacht. Der Hungerzug hat mich von meiner „Weltreise“ zurückgebracht. Es waren vier lehrreiche Tage: konzentrierter Unterricht in Geschichte, Geographie, Politik und Überlebenskunst. Er hat mir auch ein Stück Europa nähergebracht, einen Lebensraum, der für Millionen Menschen Heimat war oder ist. Trotz allem Leid und all der Tragik, verursacht durch die Macht der Politik - auch der aktuellen Europapolitik - ist ein riesiges Potential an Ausdauer und Lebenswillen bei diesen Menschen festzustellen. Daran kann auch die Neueinteilung Europas nichts ändern. Dass es leider auch eine Globalisierung der Armut gibt, hat mir eine der Lebensadern meiner kränkelnden aber lebenswilligen südosteuropäischen alten Heimat bewiesen: der Hungerzug.

 

Als Druckfassung erschienen:

Der Hungerzug, Der Donauschwabe, Aalen 2001

Trenul foamei / Az Éhségvonat, Provincia, Cluj / Klausenburg (Rumänien), Nr. 10, 2001 (in rumänischer und ungarischer Sprache)

Der Hungerzug, Banater Post, München 2001

 

Copyright © Dr. Franz Metz, München 2000

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