Das Banat und die geistliche Musik Südosteuropas.
Probleme und Ansätze einer musikhistorischen Forschung
von Dr. Franz Metz
Die geistliche Musik Südosteuropas gehört noch zum Beginn des dritten Jahrtausends zu den weißen Seiten unserer europäischen Musikgeschichte. Irgendwie enden die Kenntnisse in diesem Bereich dort, wo bis vor zehn Jahren noch der Eiserne Vorhang existierte: man kennt fast alles über die geistliche Musik des Abendlandes, der südosteuropäische Raum blieb bisher aber weiterhin als ein großes Geheimnis in einer Nebelwolke verborgen. Selbst die großen musikalischen Nachschlagwerke kommen dem aktuellen Forschungsstand nicht rechtzeitig nach. Erst nach der Ermöglichung einer mehr oder weniger objektiven Forschung durch die Wende von 1989 konnten viele der Kirchen- und Kathedralmusikarchive dieses Raumes teilweise erfasst und wissenschaftliche ausgewertet werden.
Das Gebiet des historischen Banats bildet eine Art Drehscheibe in der Erforschung der geistlichen Musik Südosteuropas: hier grenzte viele Jahrhunderte lang das Abendland an das Osmanische Reich, hier spürte man viel früher als anderswo die einsetzende Teilung der Christenheit durch das Große Schisma, und nicht zuletzt, hier kämpften viele Großmächte um die Vorherrschaft und die politischen Interessensphären. Liest man die Berichte verschiedener Reisenden die im 18. oder 19. Jahrhundert diese Region besuchten, so wird oft von einem „Winkel“ Europas gesprochen und von einem Land, in welchem sich Europa und Asien begegnen. Dadurch entstand im Laufe von vielen Jahrhunderten eine einmalige Kulturlandschaft, geprägt von Eintracht und Verständnis zwischen den dort lebenden Nationalitäten. Trotz dieser Vielfalt konnte sich die geistliche Musik jedwelchen einzelnen Stammes wie kein anderer Kulturzweig erhalten.
Der Temeswarer Musiker Treufest Peregrin schildert diesen Zustand im Vorwort seines 1858 erschienenen „Banater Liederbuches“: „(...) Vielleicht gibt es keinen zweiten Punkt in der Welt, wo auf einem gleichen Raume so viele Sprachen und Mundarten neben und unter einander gleichberechtigt Geltung haben, als dies im Banate der Fall, und wollte man dagegen das gleiche Vorkommen, ja die vielleicht noch größere Mannigfaltigkeit in namhaften See- und Handelsstädten aufstellen, so würde eine solche Annahme schon dadurch viel von ihrer Beweiskraft verlieren, daß im Banate alle diese Sprachen als eingeborene, seit Jahrhunderten bestehende zu betrachten sind, während in den gedachten See- und Handelsstädten das Schiff oder Gefährt, das den Fremdling gebracht, ihn und seine Sprache nach kurzer Zeit auch wieder fortführt um anderen Fremdlingen Platz machen. Und wenn somit bei ihnen die Furche des Meeres ihre Spuren begräbt, verkünden im gesegneten Banate die Furchen des urbar gemachten Landes die Thaten der Vorfahren und lebt ihr Gedächtniss fort in den Sprachen und Sitten der Enkel und Urenkel, unbeirrt und unbehelligt durch den Nachbar oder Hausgenossen.
Dies ungehemmte, bunte Sprach- und Völkergewimmel hat für den denkenden, strebsamen Menschen einen eigenen Reiz und veranlaßt so Manchen, der Heimath zu entsagen, um inmitten dieses Getriebes seinen eigenen Herd zu gründen. Wäre die Gleichberechtigung der Sprachen und Nationalitäten weniger thatsächlich, so würde dies sicher seltener geschehen, da ein gedeihliches Fortkommen etwas mehr, als blosses Essen und Trinken bedingt, und nicht immer das sogenannte "gute Leben" ein wahrhaft angenehmes Leben ist. Denn das Menschenkind lebt nicht von Brot allein: der Geist, und was damit zusammenhängt, will auch seinen Antheil haben.
Den Beleg hiezu gliebt den Einblick in gesellige Kreise aller Schichten der hiesigen Gesellschaft. Es waltet ein singlustiger Geist in ihr, und wo sich auch immer Mehrere bei Wein oder Bier zusammenfinden, Gesang in allerlei Mundarten fehlt sicher nicht. Magyar und Romane, Serb und Deutscher, Kroat und Tscheche, Slavonier und Slovak, jeder hört im traulichen Kreise gern und mit gleichem Vergnügen die Weisen seines Nachbars, singt sie, als längstbekannte, mit und bedauert höchstens, daß ihm der Text der Lieder nur mangelhaft bekannt ist. (...)“
Diese Worte haben auch nach 150 Jahren – trotz Weltkriege und politischem Totalitarismus – noch Gültigkeit. Heute noch wird im Banat das Wort Gottes in 9 Sprachen verkündet, darunter rumänisch, deutsch, serbisch, ungarisch, tschechisch, kroatisch, bulgarisch, slowakisch und jiddisch. Dem entsprechend singt man auch die geistlichen Lieder und Gesänge in all diesen Sprachen. Eine solche Vielfalt ist auf unserem alten Kontinent selten vorzufinden.
Die Erforschung der geistlichen Musiktraditionen des Banats stößt aber heute auf Schwierigkeiten besonderer Art. Durch die Teilung dieser historisch gewachsenen fast einheitlichen Region nach dem ersten Weltkrieg und die Zugehörigkeit zu verschiedenen staatlichen Hochheiten wird die Kulturforschung erschwert. Durch die Grenzziehungen nach dem Vertrag von Trianon hatte auch die Kultur darunter zu leiden. Der größte Teil gehört heute zu Rumänien, ein anderer Teil zur Wojwodina (Jugoslawien) und ein kleinerer Teil zu Ungarn.
Viele der Kirchenmusiker, Komponisten oder Kapellmeister waren in verschiedenen Orten tätig, heute müsste man deswegen in diesen drei Ländern systematische Nachforschungen anstreben. Durch die Migration vieler Kantorlehrer und Regenschori gelangten so Bestände ichhrer Nachlässe in die verschiedensten Teile des historischen Banats. Ein konkretes Beispiel wären die Kompositionen von Vinzens Maschek, der sowohl in Ruskberg (Rusca Montana) und Temeswar (Timisoara) wie auch in Weißkirchen (Bela Crkva) tätig war. Auch die Nachlässe der Komponisten Paul Conrad Wusching, Karl Rudolf Karrász, Anton Gockler, Franz Wilhelm Speer oder Leopold Magenbauer erlitten das gleiche Schicksal.
Im Banat ließen sich auch Komponisten nieder, die später in die Musikgeschichte eingegangen sind. Franz Limmer, ein gebürtiger Wiener, kam um 1830 als Domkapellmeister nach Temeswar. Sein Offertorium Justus ut palma florebit ist in Wien erschienen und ist in zahlreichen europäischen Musikarchiven vorzufinden. Johann Michael Haydn begann seine Karriere in Temeswar und schrieb als 17jähriger die Missa Trinitatis, welche am Tag der Weihe des Temeswarer Domes 1754 uraufgeführt wurde. Franz Wilhelm Speer komponierte zahlreiche Messen und das große Oratorium Die Könige in Israel. Durch seinen Umzug um 1890 nach Kroatien ist auch die Spur seines Nachlasses verschwunden.
Die kulturelle Einheit und Zusammengehörigkeit dieser Region lässt sich auch in anderen Beispielen erklären. Franz Anton Engl Graf von Wagrain wurde 1750 von der Kaiserin Maria Theresia zum Bischof der Tschanader Diözese ernannt. In dieser Zeit war bereits die bischöfliche Residenz von Szeged nach Temeswar verlegt worden. Vorher war er bis 1739 Bischof von Belgrad, danach, bis zu seiner Ernennung zum Bischof von Tschanad, Hofbischof in Österreich. In Belgrad hatte er eine eigene Musik- und Chorsänger-Kapelle die die Musik der bischöflichen Gottesdienste und die Tafelmusik besorgen musste.
Von der Tätigkeit Bischof Engls in Belgrad sind nur wenige Daten bekannt. Bereits sein Vorgänger, Bischof Anton Casimir Graf von Thurn und Vallessassina verfügte über eine Dommusik, die von Wien aus finanziert wurde. Kaiser Karl VI. wendete sich in einigen Schreiben an den Bischof und verordnete ihm für die Bezahlung der Belgrader Dommusiker Sorge zu tragen und die nötige Summe aus dem Konto für Schule und Kirchenmusik dafür zu benützen: „(...) Als ist Unser gnädigster Befehl, daß Ihr über die vorgedachtermaßen vorhin schon angewisene 1500 Gulden zur Beischafung deren noch abgängigen übrigen Kirchenrequisiten noch andere 1500 Gulden à conto deren zu solchem Ende, wie auch Unterhaltung deren daruntig errichtenden Schuellen und Kirchen-Music ausgesezten jährlich 2000 Gulden (...) dahier verabfolgen lassen sollet.“
Im Laufe der letzten dreihundert Jahren entstand im Banat auch eine einheitliche Orgellandschaft. Die ersten Orgelbauer ließen sich bereits im 18. Jahrhundert in Temeswar nieder: die Brüder Josephy kamen aus Böhmen, Carl Leopold Wegenstein aus Wien, Anton Dangl aus Niederösterreich, Franz Anton Wälter, Hörbiger kamen aus anderen Teilen der damaligen Monarchie. Heute stehen die Orgeln dieser Meister in Werschetz, Weißkirchen, Großbetschkerek, Szeged, Temeswar, Arad oder Lugosch. Es wäre dringend notwendig, den Bestand dieser historischen Musikinstrumente aus all den Kirchen und Synagogen des gesamten Banats aufzunehmen um davon ein vollständiges Bild zu bekommen. Die meisten dieser Instrumente befinden sich in einem schlechten Zustand und benötigen eine dringende Restaurierung.
In den letzten dreihundert Jahren entstand im Banater Raum eine Vielfalt von geistlichen Musikkulturen. Davon ist uns heute nur ein Bruchteil bekannt. Die meisten Regenschori komponierten für ihre Chöre und Orchester Werke die bei einheimischen oder fremden Verlagen erschienen sind. Die Wiener Nationalbibliothek besitzt ein Teil dieser Bestände wie auch die Szécsényi-Bibliothek in Budapest. 1995 wurde in Temeswar das Musikarchiv der Diözese eingerichtet, welches die Reste der Kirchenchorarchive enthält, die aus katholischen Kirchen zusammengetragen wurden. Im selben Jahr wurde auch das Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins eingerichtet. Diese Musikinstitution wurde 1871 nach dem Vorbild des Wiener Männergesangvereins gegründet und pflegte auch die geistliche Musik. Der Chor sang regelmäßig auch in der serbisch-orthodoxen Kathedrale in Temeswar, wofür ein Vertrag unterschrieben wurde. Regenschori Karl Rudolf Karrász komponierte selbst serbische Chorwerke die von seinem Serbischen Gesangverein der Fabrikstadt aufgeführt wurden. Vincens Maschek, ein in Weißkirchen, Ruskberg und Temeswar tätiger Regenschori und Komponist des 19. Jahrhunderts, widmete 1847 Johann Strauss seinen Walzer „Carnevallserinnerungen“, das Autograph konnte vor einigen Monaten in der Musiksammlung der Stadt Wien entdeckt werden. Strauss selbst weilte auf seiner ersten großen Auslandstournee 1847-1948 auch in Neusatz, Pantschowa und Belgrad, seine Kompositionen Erinnerungen an Neusatz wie auch die Alexander-Quadrille, gewidmet dem damaligen serbischen Fürsten Alexander Karadjordjewitsch, legen dafür Zeugnis ab. Bereits 1846 schrieb Strauss-Sohn für den in Wien stattgefundenen Slawenball seine beiden Serben-Quadrille, op. 14 und op. 18. Einer dieser Tänze wurde von Milos Obrenovic bestellt.
Trotz ihrer Vielfalt, weist selbst die vielschichtige geistliche Musik des Banats gemeinsame Merkmale auf. Erstens ist eine solche Symbiose zwischen der serbischen und rumänischen Musiktraditionen der orthodoxen Kirche des Banats zu beobachten. Dabei können viele Gemeinsamkeiten sowohl musikalischer wie auch musikhistorischer Art festgestellt werden. Besonders kann dies in der homophonen Mehrstimmigkeit des 19. Jahrhunderts beobachtet werden.
Viele Kantoren und Organisten der katholischen Kirchen waren auch gleichzeitig an jüdischen Synagogen tätig. Dies bezeugen z.B. die Nachlässe des Arader Kantors Franz Tietz, der den Synagogenchor aus dieser Stadt geleitet hat, gleichzeitig auch als Kantor in Neuarad wirkte. Ähnliche Situationen gab es auch in Lugosch, Temeswar, Werschetz, Großbetschkerek und Karansebesch. In den meisten Synagogen des Banats stehen Orgeln die einen historischen Wert aufweisen und von Wegenstein, Hromadka, Dangl oder Hörbiger erbaut wurden.
Die geistliche Musik Südosteuropas gehört gleichwertig zu unserem kulturellen Erbe wie jene des Abendlandes. In einer rasant und oft übereilt fortschreitenden Globalisierungspolitik unserer Zeit darf die Kultur Südosteuropas nicht übersehen werden. Man muss zuerst die einzelnen Kulturen näher kennen lernen um überhaupt ein Gesamtbild zu erlangen. Das kulturelle Gesamtbild Südosteuropas weist ein viel differenzierteres Bild auf, als man sich dies vorstellen kann. Und trotzdem, diese Kulturlandschaft entstand nicht spontan und nicht willkürlich. Sie ist von den Menschen dieser Region getragen und geformt worden. Die traditionelle geistliche Musik konnte sich hier – trotz der vielen geschichtlichen Engpässe - besser erhalten als anderswo. Eine systematische Erforschung der geistlichen Musik dieses Raumes kann aus all diesen geschilderten Gründen nur durch grenzüberschreitende Projekte geschehen. Die Einheit in der Vielfalt ergibt sich dann von selbst.
Erschienen in der Zeitschrift „New Sound“, Belgrad (Serbien), Juni 2000
Copyright © Dr. Franz Metz, München 2007
|